S1 Wirth
Teil II. Fortsetzung von Oera Lindas
S. Frethorik
- 1. Die zweite arge Zeit
- 2. Ankunft von Frisos Flotte
Wirth 1933
Die Schriften von Frethorik und Wiljow
[91] Mein Name ist Frethorik, zugenannt Ura Linda, das heißt »Über die Linden«[1]. Zu Ljudwardja bin ich zum Asega gekoren worden. Ljudwardja ist ein neues Dorf, innerhalb des Ringdeiches der Burg Ljudgarda, deren Name in Unehre geraten ist. Zu meinen Zeiten hat sich viel ereignet. Viel habe ich darüber geschrieben; aber mir wurden noch viel Dinge gemeldet. Von dem einen und anderen will ich eine Geschichte nach diesem Buche schreiben, den guten Menschen zur Ehre, den schlechten zur Unehre.
In meiner Jugend hörte ich allerseits klagen: arge Zeit kam, arge Zeit war gekommen, Frya hätte uns verlassen; ihre Wachmaiden hätte sie zurückgehalten, denn götzengleichende Bildwerke wären innerhalb unserer Landpfähle gefunden. Ich brannte vor Neugierde, diese Bildwerke zu sehen. In unserer Nachbarschaft humpelte ein altes Weiblein in die Häuser hinein und heraus und rief immer über die arge Zeit. Ich drehte ihr längsseits bei[2]. Sie strich mir ums Kinn. Nun wurde ich dreist und fragte sie, ob sie mir die arge Zeit und die Bilder einmal zeigen wollte. Sie lächelte gütig und brachte mich auf die Burg. Ein Greis fragte mich, ob ich schon lesen und schreiben könnte. »Nein«, sagte ich. »Dann mußt du erst gehen und lernen«, sagte er, sonst darf ich es dir nicht zeigen.« Täglich ging ich zu dem Schreiber, um zu lernen. Acht Jahre später hörte ich, daß unsere Burgmaid Hurerei getrieben hätte und einige Burgherren Verrat mit dem Magy geübt hätten und viele Menschen auf ihrer Seite wären. Überall entstand Zwiespalt. Da waren Kinder, die wider ihre eigenen Eltern sich auflehnten. Im geheimen wurden die braven Leute [92] ermordet. Das alte Weiblein, das alles offenkundig gemacht hatte, wurde tot in einem Graben gefunden. Mein Vater, der Richter ist, wollte sie rächen. Zur Nacht wurde er in seinem Hause ermordet. Drei Jahre später war der Magy Herr ohne Kampf. Die Sachsmänner waren fromm und klug geblieben. Zu ihnen flohen alle guten Menschen. Meine Mutter ist darob gestorben. Nun tat ich wie die anderen.
Der Magy brüstete sich mit seiner Schlauheit. Aber Irtha sollte ihm zeigen, daß sie keinen Magy noch Götzen zulassen mochte zu ihrem heiligen Schoß, aus dem sie Frya gebar. Gleich dem wilden Rosse, das seine Mähne schüttelt, nachdem es seinen Reiter grasfällig gemacht hat, so schüttelte Irtha ihre Wälder und Berge. Flüsse ergossen sich über die Felder. Die See kochte. Die Berge spien Feuer nach den Wolken, und was sie gespien hatten, schmetterten die Wolken wieder auf die Erde.
Am Anfange des Arnemonates[3] neigte sich die Erde nordwärts; sie sank nieder, immer tiefer und tiefer. In dem Wolfenmonat[4] lagen die niederen Marken (Dänemarken) von Fryas Land in der See versunken. Die Wälder, in denen Bildwerke waren, wurden emporgehoben von der Winde Spiel. Das Jahr darauf kam Frost in dem Herdemonat[5] und bedeckte Alt-Fryas Land gänzlich mit einem Eisbrett. Im Sellamonat[6] kam Sturmwind aus dem Norden her und führte Berge von Eis und Steinen mit sich. Als die Springflut kam, hob Irtha sich selber hoch. Das Eis schmolz dahin. Ebbe kam und die Wälder mit den Bildwerken trieben zur See. In dem Winneoder Minnemonat[7] fuhr ein jeder, der es wagte, wieder heim.
Ich kam mit einer Maid auf die Burg Ljudgarda. Wie traurig sah es da aus. Die Wälder der Linda-Orte waren größtenteils fort. Da, wo der Ljudgarten gewesen war, war See. Seine Wellen peitschten den Ringdeich. Eis hatte den Turm zerstört, und die Häuser lagen durcheinander. An dem Abhang des Deiches fand ich einen Stein: unser Schreiber hatte seinen Namen eingeritzt. Das war mir eine Bake[8].
So wie es unserer Burg ergangen war, so war es auch den anderen ergangen. In den hohen Landen waren sie durch die Erde, in den niederen Landen durch das Wasser zerstört. Nur Fryasburg auf Texland ward unverletzt gefunden. Aber alles [93] Land, das nordwärts gelegen war, lag unter See. Noch ist es nicht wieder emporgehoben. An dieser Seite der Flysee hatten sich, wie berichtet wurde, dreißig salzige Seen gebildet, entstanden durch die Wälder, die mit Boden und allem weggetrieben waren. In West-Flyland fünfzig. Die Gracht, die vor dem Alderga quer durch das Land lief, war versandet und zerstört. Die Seeleute und anderes fahrendes Volk, die daheim waren, hatten sich selber mit Wagen und Sippen auf die Schiffe gerettet. Aber das schwarze Volk von Lydasburg und Alkmarum hatte desgleichen getan. Derweilen die Schwarzen südwärts trieben, hatten sie viele Mädchen gerettet, und da niemand kam, sie zurückzufordern, behielten sie sie als ihre Frauen. Die Menschen, die zurückkamen, ließen sich alle innerhalb der Ringdeiche der Burgen nieder, weil außerhalb alles Schlamm und Bruch war. Die alten Häuser waren zusammengerüttelt. Aus den Oberlanden kaufte man Kühe und Schafe, und in den großen Häusern, da zuvoren die Maiden untergebracht waren, wurde nur Tuch und Filz gemacht, um des Lebens willen. Dies geschah eintausendachthundertundachtundachtzig Jahre, nachdem Atland versunken war[9].
Zweihundertzweiundachtzig Jahre[10] hatten wir keine Ehrenmutter gehabt, und nun alles verloren schien, ging man eine kiesen. Das Los fiel auf Gosa, zugenannt Makonta. Sie war Burgmaid in Fryasburg auf Texland. Hell von Haupt und klar von Sinn, sehr gut, und dieweil ihre Burg allein erhalten war, sah ein jeder daraus ihren Ruf. Zehn Jahre später kamen die Seeleute von Forana und von Lydasburg. Sie wollten die schwarzen Leute mit Weib und Kind zum Lande hinaustreiben. Darob wollten sie den Rat der Mutter einholen. Aber Gosa fragte: »Kannst du den einen und anderen zurückführen nach seinen Landen, dann solltet du dich beeilen, sonst werden sie ihre Magen nicht wiederfinden.« »Nein«, sagten sie. Da sagte Gosa: »Sie haben dein Salz gekostet und dein Brot gegessen. Ihr Leib und Leben sind unter eure Hut gestellt. Ihr müßt euer eigenes Herz untersuchen. Aber ich will euch einen Rat geben. Behaltet sie so lange, bis ihr imstande seid, sie wieder heimzuführen. Aber haltet sie außerhalb eurer Burgen. Wachet über ihre Sitten und lehret sie, als ob sie Fryas Söhne wären. Ihre Frauen sind hier [94] die stärksten. Wie Rauch wird ihr Blut sich verflüchtigen, bis zuletzt nichts anderes als Fryas Blut in ihren Nachkommen bleiben wird.«
So sind sie hier geblieben. Nun wünsche ich wohl, daß meine Nachkommenschaft darauf achtete, inwiefern Gosa Wahrheit sprach.
Als unsere Lande wieder begangen werden konnten, kamen da Bande armer Sachsmänner und Frauen nach den Orten von Staveren und dem Alderga, um goldene und andere Schmucksachen in dem sumpfigen Boden zu suchen. Doch die Seeleute wollten es nicht zulassen. Da gingen sie und besiedelten die leeren Dörfer von West-Flyland, um ihren Leib zu erhalten.
Nun will ich schreiben, wie die Geertmänner und viele Folger der Hellenia zurückkamen
Zwei Jahre nachdem Gosa Mutter wurde[11], fiel eine Flotte in den Flysee ein. Das Volk rief »ho-n-seen!«[12] Sie fuhren nach Stavoren, da riefen sie noch einmal. Die Fahnen waren im Topp, und zur Nacht schossen sie Brandpfeile in die Luft. Als es tagte, ruderten welche mit einer Schnecke in den Hafen hinein; sie riefen wieder: »ho-n-seen!« Als sie landeten, sprang ein junger Kerl auf den Wall. In seinen Händen hatte er ein Schild, darauf war Brot und Salz gelegt. Danach kam ein Greis. Er sagte: »Wir kommen von den fernen Krekalanden her, um unsere Sitten zu wahren. Nun wünschen wir, ihr möchtet so mild sein und so viel Land geben, daß wir darauf wohnen können.« Er erzählte eine ganze Geschichte, die ich hiernach besser beschreiben will. Die Greise wußten nicht, was tun; sie sandten Boten allewege, auch zu mir. Ich ging hin und sagte: »Nun wir eine Mutter haben, sollten wir ihren Rat erfragen. « Ich selber ging mit. Die Mutter, die schon alles wußte, sagte: »Laß sie kommen, so mögen sie unser Land erhalten helfen. Aber laßt sie nicht an einer Stelle bleiben, damit sie keine Gewalt über uns bekommen.«
Wir taten, wie sie gesagt hatte. Das war ganz in ihrem Sinn. Friso verblieb mit seinen Leuten in Stavoren, das sie wieder zu einer Seestadt machten, so gut sie konnten. Wichhirte ging mit seinen Leuten ostwärts nach der Eemude. Einige der Jonier, die [95] meinten, daß sie dem Alderga-Volk entsprossen waren, gingen dahin. Ein kleiner Teil, der wähnte, daß seine Vorfahren von den sieben Inseln hergekommen waren[13], ging dorthin und ließ sich innerhalb des Ringdeiches der Burg Wallhallagara nieder.
Fußnoten
- ↑ über = jenseits, also »jenseits des Lindenwaldes« oder »jenseits des Lindaflusses«.
- ↑ Seemannsausdruck »ich ging an ihre Seite«, »ich geselle mich ihr zu«.
- ↑ Erntemonat.
- ↑ Wintermonat.
- ↑ Hartung.
- ↑ Hornung.
- ↑ Mai.
- ↑ Boje.
- ↑ 2192–1888 = 305 v. Chr.
- ↑ Seit 587 v. Chr.
- ↑ 303 v. Chr.
- ↑ Vgl. Fußnote [1], S. 58.
- ↑ Seeland.